Samstag, 6. Mai 2017

Hundert Sekunden Einsamkeit


Blick vom Hotelzimmer auf El Poblado, einem Stadtteil von Medellin
 Anlässlich eines Kurzbesuchs in der Schweiz erzählte ich meiner Freundin U. bei einer Tasse Kaffee, wie es mir so ergeht in diesem Kolumbien. So kam ich unter anderem auch auf diese Geschenk-Übergabe in Medellin zu sprechen. Ich musste dort einem mir noch unbekannten Carlos Bücher eines Schweizer Freundes überreichen. Ich empfing ihn in meinem Hotelzimmer, und wir versuchten uns ein wenig auszutauschen. Er war Lehrer und arbeitete mit Jugendlichen an Projekten, bei welchen das kulturelle Erbe Kolumbiens im Mittelpunkt stand. Nach einer Weile aber wurde unsere Konversation immer zähflüssiger. Wir konnten uns gegenseitig nicht inspirieren und wussten uns so gut wie  nichts zu sagen. Zwischen unseren freundlich gemeinten Sätzen blickten wir stumm vom Balkon aus aufs Häusermeer von Medellin. Nach einer Stunde machte Carlos endlich Anstalten zu gehen. Er erhob sich und sagte, er wolle mir zum Dank noch etwas schenken. Er hiess mich sitzen zu bleiben und begann folgende Sätze zu rezitieren: 
Muchos años después, frente al pelotón de fusilamiento, el coronel Aureliano Buendía había derecordar aquella tarde remota en que su padre lo llevó a conocer el hielo. Macondo era entonces una aldea de veinte casas de barro y cañabrava construidas a la orilla de un río de aguas diáfanas que se precipitaban por un lecho de piedras pulidas, blancas y enormes como huevos prehistóricos. El mundo era tan reciente, que muchas cosas carecían de nombre, y para mencionarlas había que señalarías con el dedo... 
Bei der Nennung von Aureliano Buendia und Macondo wurde mir klar, dass hier Carlos den Anfang von Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez vorzutragen beabsichtigte. Jetzt hörte ich ihm aufmerksam zu und bewunderte zunächst seine Gedächtnisleistung. Je weiter er aber in die Geschichte vordrang, umso mehr verspürte ich das Bedürfnis, mein Handy hervorzunehmen, um diesen kostbaren Augenblick festzuhalten. Ich liess es aber bleiben, weil ich mir plötzlich der Einmaligkeit des Geschehens gewahr wurde, die keine Verwertungsabsichten ertragen hätte. Der Vortrag dieser wunderbaren Literatur war ganz für mich allein und für diesen Moment bestimmt. Er machte die vorangegangene Zähflüssigkeit der Unterhaltung um ein Vielfaches wett.
Als ich U. von dieser Begebenheit erzählte, bekam ich Augenwasser und musste mit meiner Schilderung innehalten. So erging es mir schon damals auf diesem Hotelbalkon. Plötzlich hatte er mich, dieser Carlos. Die Kraft seiner  vorgetragenen Worte hatte mich überwältigt und schlug mich in ihren Bann. Berührt und tränenfeucht sass ich in diesem blöden Korbsessel und wusste mir nicht mehr zu helfen. Er aber fuhr weiter und weiter, bis ich mich heulend an einen Baum gefesselt in diesem Macondo wiederfand.
Gegenüber U. war ich jetzt nicht mehr imstande, die Geschichte dieser Geschenkübergabe zu einem Ende zu bringen. Meine Worte versagten, meine Luftröhre verengte sich, das Augenwasser quoll. Ich sass luftschnappend an diesem blöden Kaffeetisch, gerührt von meiner Rührung von damals. U. gab mir ein Taschentuch und lächelte mir geduldig zu. Nach einer Weile holte ich tief Luft und gestand ihr, wie peinlich mir solche Vorfälle seien. Je älter ich werde, umso rührseliger würde ich. Wo soll das noch enden? 
U. fragte mich, was denn daran so peinlich sei? 
Ich stammelte etwas von Kontrollverlust und vom Umstand, mit meinem Verhalten andere verlegen zu machen. Den Gefühlen nicht Herr zu sein stünde einem lebenserfahrenen älteren Mann doch gar nicht zu. Ich fordere von ihm die Kraft, über einer Sache stehen zu können. Das Verlieren der Contenance komme einem Gesichtsverlust gleich. U. aber sah darin keine Peinlichkeit. Ihre liebenswürdige Gefälligkeit jedoch bestärkte mich noch in meiner Meinung. Es sei eine ähnliche Peinlichkeit wie der Augenblick, nach der Verrichtung eines grossen Geschäfts die Toilette zu verlassen im vollen Wissen, dass man dort einen Gestank hinterlasse, den die nachfolgende Person gezwungenermassen aushalten müsse. 
Diesen Ansatz verstand sie. Deshalb trage sie immer ein Feuerzeug und eine Kerze bei sich, meinte sie. Nach dem Gang aufs Klo würde sie regelmässig den Gestank abfackeln, das helfe.

©Nikolaus Wyss

P.S. Nach der Lektüre dieses Textes hat sich U. bei mir gemeldet mit folgenden Richtigstellungen: 
dass ich in die literatur eingehe als dame, die mit kerze und feuerzeug bewaffnet den peinlichkeiten einer eventuellen begegnung vor fremden wc türen aus dem weg gehe, kann ich unter "stoffliche freiheiten" abbuchen.
hingegen ist da noch ein kleiner "wissenschaftlicher" fehler auszumachen. kerze und feuerzeug helfen wenig, denn es ist der schwefel im zündhölzli, welcher den gestank neutralisiert. die zündhölzli liegen bei mir in reichweite der spülung und tun ihren dienst. im öffentlichen raum zünde ich dagegen immer eine kerze an und singe dazu halleluja. so übertrumpfe ich die olfaktorische peinlichkeit mit einer anderen. 
 

© Nikolaus Wyss

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